14/12/2024 Wie entstand unser Bewusstsein? Forscher haben eine neue Hypothese. Und es geht um GefühleRead NowZwei Neurowissenschafter haben eine neue Idee über die Ursprünge des Bewusstseins vorgestellt. Sie liefern eine kontrastreiche Ergänzung zu etablierten Theorien. von Henrik Bischoff erschienen in der NZZ Neue Zürcher Zeitung 13. Dez. 2024 © NZZ Wenn Gefühle am Ursprung des Bewusstseins stehen - wie steht es dann um unsere nahen Verwandten? In der modernen Neurowissenschaft ist das Bewusstsein eines der grossen ungelösten Rätsel. Antonio und Hanna Damasio, beide waren renommierte Neurowissenschafter an der University of Southern California, haben eine faszinierende Hypothese vorgestellt: Sie verorten die Ursprünge des Bewusstseins in den körperlichen Gefühlen. Sie argumentieren, dass Gefühle – und nicht etwa Kognition oder höhere Gehirnfunktionen – die Grundlage des Bewusstseins darstellen. Diese Perspektive könnte unser Selbstverständnis als Menschen grundlegend verändern und bietet eine kontrastreiche Ergänzung zu etablierten Theorien, die Bewusstsein bisher vor allem im Bereich der Kognition und Wahrnehmung verankerten. Bewusstsein als kognitive Meisterleistung? In der klassischen Neurowissenschaft ist Bewusstsein häufig als Produkt kognitiver und sensorischer Verarbeitung verstanden worden. Diese Sichtweise, die häufig unter dem Begriff des Kognitivismus zusammengefasst wird, betrachtet das Bewusstsein als Ergebnis der komplexen Verarbeitung von Informationen und Reizen durch das Gehirn. Bewusstsein ist demnach die Fähigkeit, sensorische Eindrücke aus der Aussenwelt zu integrieren und sie in ein kohärentes Bild zu formen, das uns als «Ich» erscheint. In dieser Sichtweise ist Bewusstsein somit eine Art Erweiterung der kognitiven Fähigkeiten höherer Säugetiere und insbesondere des Menschen. Höhere Gehirnareale wie der präfrontale Kortex, der für komplexe Entscheidungsprozesse und Reflexion zuständig ist, spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, also die Vorstellung von einem «Selbst» als getrennter Entität, wird hier als eine Art Nebenprodukt des kognitiven Fortschritts betrachtet. Wahrnehmung des eigenen Körpers Eine weitere prominente Theorie, die sogenannte Global Workspace Theory (GWT), schlägt vor, dass Bewusstsein entsteht, wenn Informationen aus verschiedenen sensorischen und kognitiven Systemen im Gehirn in einem gemeinsamen «Arbeitsraum» zusammenlaufen. Dieser Mechanismus ermöglicht es, dass Informationen aus verschiedenen Gehirnbereichen miteinander interagieren und eine bewusste Wahrnehmung erzeugen. Bewusstsein ist hier also die Fähigkeit des Gehirns, verschiedene Informationen zu einem kohärenten Ganzen zu integrieren und als eine Einheit zu präsentieren. Im Gegensatz zu diesen kognitiv orientierten Theorien verlagern Antonio und Hanna Damasio den Ursprung des Bewusstseins in den Bereich der Empfindung und des Gefühls. Sie argumentieren, dass nicht nur die Verarbeitung äusserer Reize oder die kognitive Integration von Informationen Bewusstsein erzeugen, sondern vielmehr auch die Wahrnehmung innerer Körperzustände. Ihre Hypothese stellt das Konzept der «homöostatischen Gefühle» ins Zentrum: Diese Gefühle, die tief im Körper wurzeln und uns über unseren physischen Zustand informieren – Hunger, Durst, Schmerz, Kälte oder Wohlbefinden –, seien die Grundlage des bewussten Erlebens. Die entscheidenden Bausteine des Bewusstseins liegen in dieser Sicht in den Empfindungen, die wir über unseren Körper wahrnehmen – und weniger in den kognitiven Prozessen, die wir bislang oft als grundlegend betrachteten. Bewusstsein als Überlebensinstrument Die Damasios bieten darüber hinaus eine evolutionäre Erklärung für ihre Theorie: Die Entwicklung des Bewusstseins wuchs nicht mit der Fähigkeit, komplexe Gedanken zu fassen, sondern mit der Notwendigkeit, grundlegende Körperzustände zu regulieren und zu überleben. Homöostatische Gefühle – das Wahrnehmen von Hunger, Schmerz oder Temperatur – bieten demnach nicht nur eine Überlebensgrundlage, sondern bilden auch den Ausgangspunkt für das subjektive Erleben. Bewusstsein, so die Damasios, sei keine kognitive Meisterleistung, sondern ein evolutionäres Werkzeug, das es Lebewesen ermöglicht, ihr eigenes Wohlbefinden zu maximieren und Risiken aktiv zu vermeiden. Manche Forscher mögen befürchten, dass das Modell der Damasios dazu führen könnte, kognitive Prozesse bei der Erklärung des Bewusstseins zu vernachlässigen. Das Bewusstsein des Menschen ist schliesslich nicht nur das Empfinden innerer Zustände, sondern umfasst auch das komplexe Nachdenken über sich selbst und die Welt. Die Damasios selbst argumentieren, dass kognitive Prozesse durchaus eine wichtige Rolle spielten, aber dass diese ohne das Fundament der Gefühle gar nicht entstehen könnten. Die Fähigkeit zu fühlen sei die Voraussetzung, aus der später kognitive Reflexion wachsen könne. Für die Therapie hilfreich Der Ansatz der Damasios könnte auch für die Therapie und Behandlung psychischer Erkrankungen eine Rolle spielen. Wenn wir das Bewusstsein und das Selbstverständnis des Menschen als tief im Körper verwurzelt betrachten, könnten Therapiemethoden, die auf Körperwahrnehmung und Empfindung abzielen, eine neue Bedeutung gewinnen. Achtsamkeitsbasierte Therapieformen oder körperorientierte Verfahren könnten einen direkten Zugang zum Bewusstsein bieten, indem sie die Patienten lehren, ihre inneren Körperempfindungen wahrzunehmen und zu interpretieren. Dies könnte bei der Behandlung von Angstzuständen oder Depressionen hilfreich sein, da Patienten durch den Fokus auf ihren Körper lernen, ihre Emotionen und Bedürfnisse besser zu verstehen und zu regulieren. Die Theorie der Damasios rückt also den Menschen als fühlendes, empfindsames Wesen ins Zentrum und könnte dazu beitragen, die Therapie von einer rein kognitiven auf eine ganzheitlichere Ebene zu heben. In einer Zeit, in der das Selbst oft mit Denkleistung gleichgesetzt wird, erinnert uns diese Sichtweise daran, dass Bewusstsein mehr ist als nur ein komplexes Rechenmodell. Das Menschsein beginnt in den tiefsten Schichten des Körperempfindens – und genau dort könnte die Heilung ansetzen. In einer zunehmend kognitiv orientierten Welt könnte diese Rückbesinnung auf das Fühlen nicht nur die Neurowissenschaft bereichern, sondern auch unser Verständnis für uns selbst als fühlende, lebendige Wesen vertiefen. Henrik Bischoff ist klinischer und neurokognitiver Psychologe und forscht derzeit an der Sigmund-Freud-Privat-Universität Wien. Zuvor war er als Affiliated Researcher am Laureate Brain Institute in Tulsa, Oklahoma, tätig.
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AutorDas Pionierhafte hat mich schon immer faziniert: ob als Serial-Start-up-Gründer, Solar-Unternehmer oder Berater für Kreislaufwirtschaft, als trauma-informiertet Leadership Mentor, zertifizierter NARM Practitioner, Outdoor Guide, Experte für Neuroregulation und Forscher für Lösungen von Leiden jenseits der Symptomen . Archiv
December 2024
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